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Will ich wirklich spielen oder bloß gewinnen?

Im Allgemeinen denke ich, wenn man sich auf das Spielen freut und es genießen kann, kommt auch etwas Gutes dabei heraus.
VlSWANATHAN ANAND

Nach meiner Erfahrung geschieht etwas sehr Wichtiges in dem Moment, in dem Sie erfahren, gegen wen Sie zu spielen haben. Beobachten Sie Ihre Gedanken in diesem Moment. Der Turnierleiter hängt die Liste mit den Paarungen der nächsten Runde auf, und normalerweise zeigen Sie eine Reaktion wie "Okay, da sehe ich ganz gute Chancen für mich", oder "Mist, schon wieder Schwarz, und dann noch gegen diesen nervigen Typen, der einen, wenn man am Zug ist, fortwährend anstarrt". Manchmal nervt einen sogar die Tatsache, dass einer der direkten Konkurrenten einen viel leichteren Gegner gezogen hat, und lässt sich schon dadurch von der bevorstehenden eigenen Aufgabe ablenken. Manchmal erfinden Sie schon vor Beginn der Partie Geschichten über Ihren Sieg - oder Ihre Niederlage. Alle diese Reaktionen verraten eine gewisse übertriebene Lässigkeit bis hin zur Unlust - der bevorstehende Kampf bedeutet Ihnen nicht wirklich etwas, es geht Ihnen nur um das Resultat, das am Ende herauskommt. Es ist wirklich wichtig, das Spiel ebenso zu genießen wie den Sieg. Wenn Sie das Spielen wirklich lieben, ist Gewinnen ein Teil dieser Liebe zum Spiel, und das Streben nach dem Sieg ist eine Selbstverständlichkeit und völlig natürlich. Wenn Sie aber einfach nur gewinnen wollen, erscheinen Ihnen die dafür notwendigen schwierigen Entscheidungen nur als lästige Pflicht, und Sie würden sich deshalb am liebsten um diese Entscheidungen drücken - am Ende wird Ihnen das Gewinnen weitaus schwerer fallen! Sie müssen sich also fragen: Will ich wirklich hier sein und eine Partie Schach spielen? Wenn Ihre Antwort auf etwas wie "Nein, eigentlich eher nicht" hinausläuft, können Sie natürlich trotzdem weitermachen und aufs Beste hoffen. Sie können sich aber auch in Erinnerung rufen, warum Sie das Spiel mögen, und welche Momente des Glücks und Erfolgs in der Vergangenheit Sie dem Spiel verdanken. Sie können sich auch einfach der Tatsache stellen, dass Sie, wenn Sie schon eine Partie Schach spielen müssen, das dann doch auch mit Vergnügen tun könnten! Zusätzlich zu diesen Fragen erinnere ich mich auch gerne an einige meiner charakteristischen Fehler, etwa den Verlust des Gespürs für die Gefahr, wenn die Sache zu glatt zu laufen scheint, oder nachlassende Konzentration in gewonnenen Stellungen. Ich bin inzwischen erfahren genug und weiß, dass man diese Probleme nicht einfach "wegdenken" kann. Einige davon sind zu tief in unserem Charakter angelegt und lassen sich vielleicht am ehesten als "Gewohnheitsenergie" beschreiben. Manchmal aber genügt schon das Erkennen der Existenz dieser Gewohnheitsenergie, um den Griff, in dem sie uns hält, zumindest etwas zu lockern. Deshalb versuche ich vor den meisten Partien, dem Ratschlag meines bevorzugten buddhistischen Schriftstellers Thich Nhat Hanh zu folgen, der uns mahnt, zu uns selbst zu sagen: "Hallo Gewohnheitsenergie, ich kann Dich sehen!"

aus: [Jonathan Rowson] - [Schach für Zebras] S.90 [GAMBIT PUBLICATIONS LTD]
Rezensionen:
[berlinerschachverband.de]
[koenig-plauen.de]
[chessbase.com]
[chessville.com]
 

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